14 August 2023

Einzigartige Herausforderungen beim Brienzer Entwässerungsstollen

Ein Entwässerungsstollen soll das Abrutschen des Bündner Bergsturzdorfes Brienz ins Tal aufhalten. Das Vorhaben stellt die involvierten Fachleute vor weltweit einzigartige Herausforderungen, wie die Experten am Montag bei der Präsentation der Bergbauarbeiten erklärten.

Brienz/Brinzauls stand in jüngster Zeit landesweit in den Schlagzeilen, weil über dem Dorf im Albulatal ein Bergsturz drohte, der es hätte verschütten können. Ausserhalb Graubündens wenig bekannt ist, dass auch das Dorf selbst auf instabilem Gestein steht und in zunehmenden Tempo talwärts rutscht.

„Der Stollen soll die Bewegung des Gesteins unter dem Dorf und auch die des Berges darüber aufhalten“, erklärte Ingenieurgeologe Reto Thöny vor den Medien. Es gebe auf der ganzen Welt kein vergleichbar komplexes Entwässerungsprojekt einer Rutschung. Es sei überall immer nur ein Feld entwässert worden, dass sich zudem viel langsamer bewegt habe.

Dennoch sind die Geologen und Bergbauer in Brienz/Brinzauls zuversichtlich, die Rutschbewegungen genügend zu verlangsamen, um das Dorf bewohnbar zu halten. „Wir sind guten Mutes, dass die Rutschung allenfalls ganz zum Stillstand kommt“, sagte Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Albula/Alvra zu dem Brienz gehört.

Der absturzgefährdete Teil des Berges über dem Dorf entlud sich zwar Mitte Juni in einem gewaltigen Schuttstrom, der unmittelbar vor dem Ort zum Stillstand kam. Doch am Berg sind weiterhin 70 Millionen Kubikmeter Fels in Bewegung, das entspricht dem Volumen von 70’000 Einfamilienhäusern.

Das Dorf wiederum steht auf einer 150 Meter dicken Schicht instabilen Gesteins, die abrutscht. Zeitweise bewegte sich diese Rutschung mit 1,6 Metern im Jahr. Beide Rutschungen, jene über und jene unter dem Dorf, müssen die Experten aufhalten. Das Dorf wäre sonst langfristig nicht bewohnbar, weil dessen Infrastruktur auseinandergerissen wird durch die Bewegung.

Auch im Fels unter dem Dorf ist das Problem ein doppeltes. Die Experten gehen davon aus, dass erhöhter Wasserdruck im Untergrund, der dem instabilen Gestein Auftrieb verleiht, die Hauptursache der Rutschbewegung ist. Doch das Wasser befindet sich sowohl in der instabilen und abrutschenden Gesteinsschicht, als auch im festen Fels darunter. Beide Schichten wollen die Geologen entwässern.

Bereits im stabilen Gestein erstellt ist ein 650 Meter langer Sondierstollen mit dem Querschnitt eines kleinen einspurigen Strassentunnels. Daraus wurden lange Drainagebohrungen erstellt. „Mit dem Sondierstollen wollten wir herausfinden, ob die Tiefenentwässerung funktioniert“, sagte Josef Kurath vom Bündner Tiefbauamt.

Die Resultate würden zuversichtlich stimmen, ergänzte Ingenieurgeologe Thöny. Allein die Entwässerung in der Tiefe habe die Rutschgeschwindigkeit des Dorfes halbiert. Und auch die Rutschung am Berg habe sich verlangsamt. Nun würden Drainagebohrungen auch in die instabile Rutschschicht geführt, senkrecht nach oben, um auch dort Erfahrungen zu sammeln.

Es handle sich um hochkomplexe Bohrungen gegen die Schwerkraft, führten die Experten aus. Diese müssten zudem sehr schnell ausgeführt werden, damit die Bohrlöcher nicht durch die Bewegung des Felsens gleich wieder zusammenbrechen würden.

Obwohl hier viele Messwerte noch ausstehen, sind die Erfahrungen mit dem Sondierstollen so vielversprechend, dass bereits dessen Verlängerung zu einem insgesamt 2,3 Kilometer langen Entwässerungssystem beschlossen ist. Aus diesem Entwässerungsstollen sollen dann über 100 Drainagebohrungen erstellt werden.

Der Baubeginn des 40 Millionen Franken teuren Baus ist für März 2024 vorgesehen. Bund und Kanton übernehmen je 45 Prozent der Kosten. Die restlichen 10 Prozent teilen sich die sogenannten Nutzniesser. Zu diesen gehören die Rhätische Bahn, das Bündner Tiefbauamt, die Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid und natürlich die Gemeinde Albula/Alvra mit Brienz.

Die Gemeindeversammlung von Albula/Alvra hat die notwendigen Mittel bereits bewilligt. „Wir arbeiten an der Zukunft von Brienz“, sagte Christian Gartmann, Mitglied des Gemeindeführungsstabs und Kommunikationsverantwortlicher, zum Abschluss der Medienführung durch den Stollen. „Wenn es uns gelingt, die Rutschung genügend zu verlangsamen, kann Brienz auch in 5 oder in 15 Generationen bewohnt werden.“