Schweizer Autorin Ruth Schweikert ist ihrem Krebsleiden erlegen
Die Schriftstellerin und Theaterautorin Ruth Schweikert ist gestorben. Dies hat ihr Ehemann Eric Bergkraut am Dienstag der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mitgeteilt. Schweikert hat das zeitgenössische literarische Schaffen in der Schweiz geprägt – nicht allein mit ihren Büchern, sondern auch als Förderin von literarischen Talenten.
Besonders in ihrem letzten Buch „Tage wie Hunde“ (2019) hat sie ihrer Haltung, ihrem Engagement und ihrer Empathie Ausdruck verliehen. In diesem Protokoll einer Krankheit beschrieb Schweikert, wie sie von einer bösen Krebsdiagnose überrumpelt wurde. Um Worte ringend beobachtete sie sich dabei, wie sie selbst wieder Haltung findet.
In dem Text steckt eine wilde Unruhe und zugleich ein leidenschaftlicher Widerstandsgeist. „Tag für Tag ertappte ich mich in flagranti bei meinem Überlebenswunsch.“ Dabei liess sie sich nicht erdrücken, sondern weitete den Blick, um verstorbener Freunde zu gedenken.
Vor kurzem ist die Krankheit bei ihr wieder ausgebrochen. Nun ist sie es, derer man gedenkt. In ihren Werken hat sie sich als eine Meisterin der Anfänge erwiesen.
Schon ihr Debüt, der Erzählband „Erdnüsse. Totschlagen“, geriet 1994 zum fulminanten Auftakt. Hinter dem boshaft klingenden Titel verbergen sich sieben Geschichten, die von Frauen und Müttern erzählen, die gefangen sind zwischen dem Wunsch nach Glück und den täglichen Beziehungskatastrophen. Sprachlich überzeugt der Band mit einem harschen, ungehobelten Ton, der schon damals Schweikert als Repräsentantin eines neuen weiblichen Schreibens auswies.
Vier Jahre später trieb sie das Thema im Roman „Augen zu“ weiter. Gleich der erste Satz sticht in die Wunde: „Als Kind wünschte ich mir an manchen Tagen schon frühmorgens dringend irgend etwas, das nicht Milch hiesse und Butter und das täglich Brot gib uns heute.“ In diesem brillanten Anfang steckt bereits das ganze Gespinst von Hoffnung und Scheitern, in dem sich das Paar Aleks und Raoul verheddert.
Ruth Schweikert wurde 1965 im badischen Lörrach geboren. Sie wuchs in Aarau auf und zog später nach Zürich, wo sie mit dem Filmemacher Eric Bergkraut und ihren fünf Kindern lebte. Dieses Familienleben forderte seinen Tribut. Zwischen ihren Büchern lagen lange Pausen. Zugleich aber erdeten die familiären Erfahrungen ihr Schreiben.
2005 folgte der Roman „Ohio“, abermals mit einem bemerkenswerten Anfang. Mit ein paar Sätzen führt die Autorin ins Zentrum der verstörten Beziehung von Merete und Andreas, die sich über Rückblenden in ein weites Familienmuster verzweigt. Die Erzählung konzentriert sich dabei auf wenige Stunden, die Andreas noch zu leben bleiben.
In ihrem Werk hat Schweikert von Menschen erzählt, die sich im Räderwerk des Alltags zu behaupten suchen. Im Zentrum steht dabei immer wieder die Familie als Keimzelle der Gesellschaft wie als Quelle von Glück und Verhängnis. Ihr schonungslos genauer Blick auf das Private lässt indes nie den weiten zeitgeschichtlichen Horizont ausser Acht, in dem die individuellen Erfahrungen aufgehoben sind. Genau dies charakterisiert ihre Prosa und ihre insgesamt drei Theaterstücke.
Die Autorin hat die weite Welt aus ihrem Familienkosmos heraus in den Blick genommen. Peter Bichsel erkannte in seiner Laudatio an Ruth Schweikert zum Zürcher Kunstpreis 2016 darin ein ausgesprochen couragiertes Programm: „erzählen und aufschreiben sind zwei sehr verschiedene Sachen, das Aufschreiben bedrohlich, das Erzählen besänftigend“.
Im selben Jahr hat Schweikert auch den Solothurner Literaturpreis erhalten, für ihr Werk und insbesondere für den Generationenroman „Wie wir älter werden“ (2015). Sie unterzieht darin zwei Familien einer strengen Selbstbefragung. Mit dem Alter der Eltern konfrontiert, entwirren die Töchter Iris und Kathrin ein altes familiäres Lügengewebe. Zupackend und schlicht erzählt der Roman von Liebe und Verrat. Niemand kommt dabei ungeschoren davon. Doch die Autorin hält unverbrüchlich zu jeder ihrer Figuren.
Alles in allem blieb Schweikerts Werk schmal. Doch mit Blick auf ihr Schaffen gilt es einen erweiterten Werkbegriff anzuwenden. Nicht nur, dass sie neben Prosa auch Kolumnen und Texte zum Zeitgeschehen verfasst hat. Sie hat sich in einem umfassenden Sinn engagiert: politisch und literarisch. Zusammen mit anderen Kunstschaffenden kandidierte sie beispielsweise 2015 auf einer „Kunst und Politik“-Liste für den Nationalrat.
Dabei ist sie jederzeit nahbar geblieben, vor allem in ihrer Rolle als Förderin. Vor allem am Bieler Literaturinstitut hat sie sich um den literarischen Nachwuchs gekümmert – so sehr, dass hin und wieder in den Texten der jungen Autorinnen und Autoren ein Satz oder eine Formulierung auftaucht, worin die Lehrerin Schweikert erkennbar ist.
In den letzten Jahren hat sie sich jener Schreibenden mit Migrationshintergrund angenommen, die in einer „fünften“ Landessprache schreiben und deshalb hierzulande kaum Zugang zum Literaturbetrieb erhalten. Wenn eben erst noch in Zürich ein „Lesefest“ zur vielsprachigen Schweiz stattgefunden hat, so ist auch darin das Wirken von Ruth Schweikert sichtbar. Sie setzte sich ein, oft auch um den Preis, weniger Zeit für die eigenen Texte zu haben.
In ihrem Engagement fühlte sie sich Max Frisch verbunden, der, wie sie in einem verspäteten Brief an diesen schrieb, in seinen Texten über den Tod hinaus anwesend geblieben sei und der seine Sorgen um die Schweiz „zu Lebzeiten mit der Öffentlichkeit als Partner geteilt“ habe. Darin folgte sie ihm. Am vergangenen Sonntag ist sie in ihrem Zürcher Zuhause an ihrer Krebserkrankung gestorben.
(text&bild:sda)