13 August 2021

Mehr als die Hälfte der Provinzhauptstädte an Taliban gefallen

Die militant-islamistischen Taliban haben in Afghanistan ihre Gebietsgewinne in rasantem Tempo fortgesetzt und binnen einer Woche mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte eingenommen. Am Freitag waren nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 18 der 34 Provinzhauptstädte unter Kontrolle der Islamisten.

Nach der zweitgrössten Stadt Kandahar in der Nacht und der wichtigen Stadt Laschkargah am Morgen eroberten die Taliban mit Pul-i Alam in der Provinz Logar eine Provinzhauptstadt nur rund 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.

Die Taliban hätten dort die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen, sagten ein Provinzrat und ein Parlamentarier der Deutschen Presse-Agentur. Aus Sicherheitskreisen heisst es seit längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher zur Provinz Kabul liegenden – Choschai und Mohammed Agha – sind umkämpft. Von Pul-i Alam sind es nur rund eineinhalb Stunden mit dem Auto nach Kabul.

Der afghanische Präsident Aschraf Ghani schwieg lange zur Lage. Am Freitagnachmittag (Ortszeit) teilte sein Vizepräsident Amrullah Saleh mit, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der „Armee der Ignoranz und des Terrors“ – damit meinte er die Taliban – entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300 000 Sicherheitskräfte und 60 000 Taliban-Kampfer gibt.

Mehrere Staaten bereiten sich mittlerweile auf die Evakuierung ihrer Botschaftsmitarbeiter und anderer Staatsbürger vor. Die US-Streitkräfte verlegen sofort rund 3000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hiess es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1000 nach Katar – für den Fall, dass Verstärkung gebraucht wird. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit).

Auch Grossbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten aus Afghanistan zu sichern. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weissen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“.

Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. „Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe“, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des UN-Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.

Die Taliban nähern sich weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Firus Koh in der Provinz Ghor, Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul. Drei Grossstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Masar-i-Scharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung. Es gibt Berichte über Angriffe auf weitere kleinere Provinzhauptstädte des Landes.

(text:sda/symbolbild:unsplash)