3 Februar 2022

Lunte am Pulverfass: Brexit-Streit um Nordirland eskaliert

Der Streit um Brexit-Sonderregeln für Nordirland gefährdet die Stabilität in dem britischen Landesteil. Den Verhandlungen zwischen Brüssel und London drohte ein herber Rückschlag und der Regionalregierung in Belfast das Aus. Das könnte die angespannte Lage in der früheren Bürgerkriegsregion nach Ansicht von Beobachtern deutlich verschärfen. Verantwortlich für die brisante Entwicklung war vor allem die regierende Democratic Unionist Party (DUP), die Rückendeckung von der britischen Regierung erhielt. Die EU-Kommission und das benachbarte EU-Mitglied Irland zeigten sich entsetzt über das Vorpreschen.

Die DUP gab aus Protest gegen die Brexit-Regelungen am Mittwoch bekannt, die mit der EU vereinbarten Zollkontrollen britischer Importe stoppen zu wollen. Nach Angaben der EU-Kommission von Donnerstagabend wurden diese aber noch durchgeführt. Am gleichen Tag kündigte Regierungschef Paul Givan von der DUP seinen Rücktritt an. Damit kann die sorgfältig austarierte Einheitsregierung zwischen der protestantisch geprägten DUP, die für die Union mit Grossbritannien eintritt, und der katholisch-republikanischen Partei Sinn Fein, die eine Wiedervereinigung mit Irland anstrebt, nicht in ihrer bisherigen Form weiter bestehen. Die gleichberechtigte Vizeregierungschefin von Sinn Fein, Michelle O’Neill, muss ebenfalls ihr Amt niederlegen.

Die Folgen sind nicht absehbar. Beobachter befürchten eine Phase, in der die Region politisch gelähmt ist. Doch die Sorge ist vor allem, dass die Lage auf den Strassen wieder eskaliert. Bereits in den vergangenen Monaten hatten Befürworter der Union mit Grossbritannien gegen die Zollgrenze in der Irischen See gehetzt. Zwei Mal stoppten Maskierte einen Linienbus, jagten die Fahrer fort und setzten die Fahrzeuge in Brand. Auf vielen Wänden waren Parolen und Drohungen zu lesen. Die DUP kritisierte zwar die Gewalt, goss aber selbst Öl ins Feuer: Wiederholt kündigte Parteichef Jeffrey Donaldson an, seine Minister abzuziehen, wenn London das Nordirland-Protokoll, das er als „wirtschaftlichen Wahnsinn“ bezeichnete, nicht aufkündigt.

Dieses Dokument, das London und Brüssel im Zuge des Brexits ausgehandelt hatten, sieht vor, dass Nordirland im Gegensatz zum Rest des Vereinigten Königreichs weiter Mitglied der EU-Zollunion und des Binnenmarkts ist. Damit soll eine harte Grenze zum EU-Mitglied Irland vermieden werden, um neue Spannungen sowie Gewalt der meist katholischen Befürworter einer Wiedervereinigung zu vermeiden. Entstanden ist damit aber eine innerbritische Zollgrenze. Lebensmittel aus Grossbritannien unterliegen Kontrollen. Loyalisten fürchten, dass die Beziehungen mit London dadurch geschwächt werden.

Die Regelung, die der britische Premierminister Boris Johnson selbst unterschrieben hat, ist ihm längst ein Dorn im Auge. Auch deshalb signalisierte die Regierung in London umgehend Rückendeckung für die DUP-Pläne. Der Stopp der Brexit-Kontrollen sei Sache der nordirischen Exekutive, bescheinigte auch Aussenministerin Liz Truss. Das birgt Brisanz. Denn Truss verhandelt derzeit mit EU-Vizekommissionschef Maros Sefcovic über Änderungen an dem Protokoll, auch am Donnerstag.

„Wir brauchen dringend Fortschritt“, schrieb Truss nach ihrem Gespräch mit Sefcovic auf Twitter. Die Priorität bleibe es, Frieden und Stabilität in Nordirland aufrechtzuerhalten. Es brauche dringend Fortschritte. Nächste Woche soll in London weiter gesprochen werden.

Die EU-Kommission reagierte zunächst zurückhaltend auf den Alleingang der DUP, der als Wahlkampfmanöver kritisiert wurde. Sie rief die britische Regierung auf, ihre internationalen Verpflichtungen einzuhalten. Ähnlich äusserten sich die Vorsitzende des Binnenmarkausschusses im EU-Parlament, Anna Cavazzini (Grüne) und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses David McAllister (CDU). Deutlicher wurde die irische EU-Kommissarin Mairead McGuinness. „Das ist ein klarer Bruch von internationalem Recht“, sagte sie dem irischen Sender RTÉ. „Diese Ankündigung hat für Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit und keinesfalls für Stabilität gesorgt, deshalb verstehe ich den Sinn dieses Schritts nicht.“

Auch Jahre nach dem Friedensschluss sind Loyalisten und Republikaner in Nordirland weit von einer Versöhnung entfernt. Noch immer wohnen Katholiken und Protestanten getrennt voneinander, geben ihre Kinder auf unterschiedliche Schulen. In Belfast trennen „Friedensmauern“ die Viertel. Erst vor knapp einem Jahr kam es an dieser Grenze zu neuen Krawallen, Jugendliche warfen Molotow-Cocktails. Nun werden neue Ausschreitungen befürchtet.

(text:sda/bild:keystone)