17 August 2021

Evakuierung aus Kabul läuft – Deutschland setzt Entwicklungshilfe aus

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat die Bundeswehr unter schwierigsten Bedingungen mit ihrer Luftbrücke zur Rettung von Deutschen und Afghanen begonnen. Ein Transportflugzeug brachte am Dienstag 125 Menschen in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Stunden zuvor hatte eine erste Maschine vom Typ A400M erst Fallschirmjäger in Kabul abgesetzt und auf dem Rückweg 7 Menschen ausser Landes geflogen. Die Evakuierungsaktion sei jetzt „voll angelaufen“, sagte Aussenminister Heiko Maas (SPD) in Berlin. Als Reaktion auf den Machtwechsel stoppte die Bundesregierung die staatliche Entwicklungshilfe und alle anderen Hilfszahlungen für Afghanistan.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte, Deutschland müsse alles daransetzen, die eigenen Landsleute und die Afghanen, die ihnen jahrelang zur Seite gestanden hätten, in Sicherheit zu bringen. „Darüber hinaus müssen wir gemeinsam mit unseren Verbündeten nach Möglichkeiten suchen, auch denjenigen zu helfen, die in Afghanistan jetzt von Gewalt oder Tod bedroht sind, darunter viele mutige Frauen.“

Das Land Brandenburg will die Erstaufnahme ankommender afghanischen Ortskräfte übernehmen. Das Innenministerium teilte mit, dass dies dem Bund zugesagt worden sei.

Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Rückkehr der Taliban an die Macht eine Fluchtbewegung aus dem Land auslösen wird. Mit Blick auf Forderungen, Deutschland solle Flüchtlingskontingente aufnehmen, sagte Kanzlerin Angela Merkel in Berlin: „Bevor man über Kontingente spricht, muss man erst mal über sichere Möglichkeiten für Flüchtlinge in der Nachbarschaft von Afghanistan reden. Dann kann man in einem zweiten Schritt darüber nachdenken, ob besonders betroffene Personen kontrolliert und auch unterstützt nach Europa und in die europäischen Länder kommen.“

Die Kanzlerin telefonierte dazu mit UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi. Ausserdem beriet sie die Lage in Afghanistan mit Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron und mit den Regierungschefs von Grossbritannien und Italien, Boris Johnson und Mario Draghi. Sie vereinbarten eine enge Zusammenarbeit bei der Evakuierung von europäischen Bürgern und Ortskräften.

Merkel räumte in einer Pressekonferenz das Scheitern des Westens bei dem Versuch ein, in Afghanistan ein nachhaltiges politisches System mit mehr Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten aufzubauen. „An dieser Stelle müssen wir einfach konstatieren, dass wir unsere Ziele nicht erreicht haben.“ Nach der Machtübernahme der Taliban sehe man mit Sorge, „dass das alles jetzt zurückgedreht werden kann“.

Bundespräsident Steinmeier äusserte sich ähnlich: „Das Scheitern unserer jahrelangen Anstrengungen in Afghanistan, ein stabiles, tragfähiges Gemeinwesen aufzubauen, wirft grundlegende Fragen für Vergangenheit und Zukunft unseres aussenpolitischen und militärischen Engagements auf.“ Der frühere Aussenminister betonte: „Wir erleben in diesen Tagen eine menschliche Tragödie, für die wir Mitverantwortung tragen, und eine politische Zäsur, die uns erschüttert und die Welt verändern wird.“

Das Bundeskabinett will an diesem Mittwoch das Mandat für den Bundeswehreinsatz beschliessen. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) will dafür bis zu 600 Bundeswehrsoldaten bereitstellen. Das sagte sie nach dpa-Informationen am Montag in der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden des Bundestags. Dieser soll in seiner Sondersitzung in einer Woche das Mandat verabschieden. Die FDP-Fraktion erwarte dabei eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, sagte ihr Vorsitzender Christian Lindner. Nötig sei auch ein EU-Sondergipfel.

Mit Blick auf die deutsche Entwicklungshilfe für Afghanistan sagte Merkel, Deutschland habe beim Abzug der Bundeswehr ausdrücklich erklärt, diese nicht sofort einzustellen. Aber: „Unter den jetzt gegebenen Umständen (…) können wir keine Entwicklungshilfe machen.“ Laut Aussenminister Maas haben auch andere Staaten solche Zahlungen gestoppt. „Es gilt, zu überprüfen, wo man humanitär helfen kann“, sagte er.

Afghanistan war bisher Empfängerland Nummer eins. Für dieses Jahr waren 250 Millionen Euro veranschlagt. Davon wurde aber noch kein Euro ausgezahlt. Daneben flossen bisher Gelder aus anderen Ressorts, etwa für humanitäre Hilfe oder Polizeiausbildung. Insgesamt hatte Deutschland für dieses Jahr 430 Millionen Euro zugesagt.

Linke-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch warf Aussenminister Maas und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer Versagen vor. Er legte ihnen im Zusammenhang mit den Ereignissen in Afghanistan einen Verzicht auf künftige Ministerämter nahe. „Aussenminister und Verteidigungsministerin geben ein verheerendes Bild ab“, sagte Bartsch der Deutschen Presse-Agentur.

Der FDP-Vorsitzende Lindner warf der Bundesregierung vor, mit ihrem späten Eingreifen die Situation gefährlicher als nötig gemacht zu haben. „Möglicherweise ist die Folge, dass gar nicht alle Menschen, die es eigentlich verdient hätten, evakuiert werden können. Das ist eine erschütternde Aussicht, für die die Bundesregierung die Verantwortung trägt.“

Auch Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warf der Regierung zu spätes Handeln vor. Es sei „wirklich fatal, dass die Bundesregierung in den letzten Wochen komplett die Augen vor dieser Notsituation verschlossen hat“, sagte sie im Radio-Interview der Sendergruppe Oberfranken. Es habe in den vergangenen Wochen immer wieder Berichte über die Lage in Afghanistan gegeben, auch die Botschaft in Kabul habe gewarnt.

(text:sda/bild:unsplash)